Welches „Ich“ wäre genehm?

 

Als ich laufen lernte,
tat ich es an eurer Hand;
somit konnte ich nicht viel verkehrt machen.

Als ich anfing, Sätze zu plappern,
sprach ich eure Worte nach;
somit konnte ich nicht viel verkehrt machen.

Doch was passierte dann?
Unumgänglich begann in mir
eine Persönlichkeit zu wachsen,
die ihr nicht verstehen konntet.

Für euch galt wohl meistens,
die Fassade zu polieren,
um den guten Eindruck zu hinterlassen –
oder zu wahren.

Für mich galt das Leben – und dieses gerecht.

Ich lachte,
ich redete,
ich liebte,
ich weinte,
ich schrie …
was sollte ich tun, um euch zu erreichen?

Meine Gene sind auch die euren,
ihr könnt mich nicht verleugnen
und ich will euch niemals verleugnen.

Meine Hände sind Muttis Hände.
Lächle ich, so fühle ich den Vater.
Und weine ich,
so denke ich an euch –
und an das nie akzeptierte „Ich“.

Was wolltet ihr aus mir machen?
Mich unerreichbar für Menschen?
Mich mit eurer Arroganz überziehen
und mit Überheblichkeit gegenüber anderen bestücken?

Meint ihr, ihr seid besser
als wir hier vor eurer Haustür?
Ich habe euch kennengelernt und frage mich:

„Wer bin ich,
dass ihr so anders seid?“

Ich bin ohne Frotzeleien Mensch geworden,
Mensch geblieben –
und wisst ihr auch warum?

Weil ich denke,
fühle,
liebe,
weine
und schreie!

Ich habe eure Grenzen missachtet,
sie nicht anerkannt –
und wisst ihr was?

Ich weiß heute erst,
wie stark ich durch euch geworden bin.
Ich bin nicht allein,
denn ich bin bereit,
meine Wege zu gehen …

Hätte ich euch nicht durch mich verloren,
so hätte ich mich verloren.

Gruß
eure Tochter

©Melanie Jogsch